Dialog statt Konkurrenz: Die Erinnerung an Kolonialismus und Nationalsozialismus

GIF Sonderreihe zur Erinnerungskultur in Deutschland

Seit einigen Jahren gibt es in der deutschen Erinnerungskultur einen grundsätzlichen Streit: Während Teile der Anhänger*innen der Postcolonial Studies beklagen, dass die Dominanz des Gedenkens an die „Shoah“ eine angemessene Erinnerung an die kolonialen Gewaltverbrechen verhindert, fürchten NS-Forscher*innen, dass ein verstärktes Erinnern an die Opfer von Kolonialismus und Sklaverei zur Relativierung des „Holocaust“ führen könne. Der Freiburger Historiker und Sozialwissenschaftler Dr. Heiko Wegmann hat sowohl zur südwestdeutschen Kolonial- als auch zur NS-Geschichte geforscht. In seinem Gastbeitrag für das GIF-Magazin zeigt er auf, welche kolonialen Aktivitäten es in Freiburg während der NS-Zeit gab und wie ein Dialog zwischen den verschiedenen Gedenkkulturen funktionieren könnte.

Die Befassung mit globaler und deutscher Kolonialgeschichte einerseits sowie speziell mit den Verbindungen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus andererseits wirft wichtige erinnerungspolitische Fragen auf: An welche Opfer von Gewaltverbrechen wird erinnert und an welche nicht? Wie ist das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus? Wo liegen die Notwendigkeiten ebenso wie die Grenzen von Vergleichen?

In der deutschen Erinnerungskultur kommt dem Gedenken an die „Shoah“ ein zentraler Stellenwert zu, der auch zukünftig verteidigt werden muss. Gleichzeitig ist aber auch die Anerkennung und Erweiterung von Perspektiven erforderlich. Dazu zählen neben anderen NS-Opfergruppen eben auch Opfer kolonialer Gewalt. Man kann die unvorstellbare Zahl der Opfer der „Shoah“ nicht im Entferntesten mit Zahl der Opfer etwa im dünn besiedelten Deutsch-Südwestafrika ein paar Jahrzehnte zuvor vergleichen. Doch verloren schätzungsweise zwei Drittel der Herero und etwa die Hälfte der Nama infolge eines Kolonialkrieges ihr Leben. Die Nachfahren der Überlebenden haben ein Recht darauf, auch gesehen zu werden und die deutsche Erinnerungskultur mit den katastrophalen Folgen dieses Genozids zu konfrontieren. Und Freiburg ist mit diesem Kolonialkrieg durchaus verbunden gewesen.

Aber auch Initiativen von Afrodeutschen fordern die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte ein, um die Wurzeln des heutigen Rassismus sichtbar zu machen. Dies wurde 2020 im Zuge der Proteste der „black lives matter“-Bewegung deutlich. Gleichzeitig geht es aber auch um die Situation von Afrikaner*innen und Deutsch-Afrikaner*innen während der NS-Herrschaft. Dies betraf die (zahlenmäßig kleine) Gruppe der Schwarzen KZ-Häftlinge ebenso wie die Massaker von Wehrmacht und Waffen-SS an Kolonialsoldaten im Frankreichfeldzug.

Weiterentwicklung von Gedenkkulturen im Dialog

Michael Rothberg, Inhaber eines Lehrstuhls für Holocaust-Studien in Los Angeles (USA), plädiert für eine „multidirektionale Erinnerung“, die die Perspektiven verschiedener Opfergruppen berücksichtigt und nicht gegeneinander ausspielt. In der „Berliner Zeitung“ schrieb er 2021, dass sich Erinnerungen an historische Traumata gegenseitig inspirieren und bestärken (können): „Ihr Aufeinandertreffen, ihre wechselseitigen Bezugnahmen – mitunter auch ihre Konflikte – produzieren ein Mehr, nicht ein weniger an Erinnerung. Im ‚zitierenden‘ Bezugnehmen auf andere Gewaltgeschichten präzisiert und schärft sich die öffentliche Erinnerung; einst unverbundene oder gar konkurrierende Gedenkkulturen können sich so im Dialog weiterentwickeln.“ Kritiker*innen Rothbergs befürchten dagegen eine Einebnung historischer Unterschiede, wenn diverse Gewaltgeschichten quasi gleichwertig aufgereiht würden.

In der Debatte über die Erinnerung an Kolonialismus und Nationalsozialismus sollten mehrere Aspekte auseinandergehalten werden: Erstens die allgemeine Bedeutung von Kolonialismus und Sklaverei für sich gesehen; zweitens die Bedeutung, die Kolonialismus speziell im NS-Staat hatte; drittens die Frage, welche Rolle koloniale Erfahrungen, Theorien und Narrative im engeren Sinne für den NS-Staat gespielt haben. Die letzten beiden Aspekte hören sich ähnlich an, unterscheiden sich aber deutlich. Lebte Kolonialismus während des NS nur als harmlose „Nostalgie“ und außenpolitische Verhandlungsmasse fort oder ging die Sache tiefer?

Freiburg und seine vielfältigen kolonialen Bezüge

Im Folgenden werden ein paar Beispiele für solche Zusammenhänge genannt. Dabei ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass die kolonialen Bezüge der Freiburger Geschichte vielfältig waren und lange begannen, bevor das Deutsche Kaiserreich 1884 formell Kolonialmacht wurde. Hier sei nur das Beispiel des Johann Baptist Messy genannt, der im 18. Jahrhundert als Aufseher auf einer Sklavenplantage in Surinam reich und nach seiner Rückkehr zum städtischen Polizeiinspektor ernannt wurde. Ab 1882 institutionalisierte sich eine Kolonialbewegung in Freiburg in Vereinen. Sie endete aber nicht mit dem Ersten Weltkrieg und dem „Verlust“ der kolonisierten Gebiete 1918/19. Vielmehr transformierte sie sich in eine „kolonialrevisionistische“, die die Rückgabe der ehemaligen Kolonien forderte.

Während der NS-Zeit fand zunächst eine Bündelung und teilweise „Selbstgleichschaltung“ kolonialer Verbände im Reichskolonialbund statt. Erst 1936 wurden die meisten Verbände aufgelöst und ihre Mitglieder weitgehend in den gleichnamigen, aber anders organisierten neuen Reichskolonialbund überführt. Dieser stand nun direkt unter NS-Kontrolle und arbeitete eng mit dem Kolonialpolitischen Amt der NSDAP zusammen. Ein Vergleich wirft Fragen zur Verbreitung kolonialer Ideologie und Nostalgie auf: Hatte die von Eliten getragene Oberbadische Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft um das Jahr 1900 herum 80 Mitglieder, brachte es der Kreisverband Freiburg des Reichskolonialbundes 1938 schon auf über 3.000. Ende 1942 kam der gesamte Reichskolonialbund auf über zwei Millionen Mitglieder.

„Lebensraum“ in „Deutsch-Mittelafrika“ oder im „Osten“?

Welche Bedeutung der überseeische Kolonialismus für den oder zumindest im NS-Staat hatte, war selbst schon zur NS-Zeit umstritten. Dies lässt sich etwa an den verschiedenen Positionen zur Frage ablesen, wo zukünftig „deutscher Lebensraum“ geschaffen bzw. erobert werden sollte: In Übersee, in Osteuropa oder sowohl als auch. Teile der „alten“ Kolonialbewegung gingen noch zur NS-Zeit von einer „Überbevölkerung“ von zwei Millionen Deutschen aus. Sie sollten zum Beispiel in Kolonien in den höher gelegenen Teilen Ostafrikas angesiedelt werden. Die große koloniale Ausstellung, die 1935 in der Freiburger städtischen Kunst- und Festhalle gezeigt wurde, fand unter dem Motto „Auch hier liegt unser Lebensraum!“ statt. Das Werbeplakat verband die Motive Kokospalme, Hakenkreuz und eine Landkarte, auf der das Deutsche Reich und die ehemaligen afrikanischen Kolonien hervorgehoben waren. Schirmherr der Ausstellung in Freiburg war kein anderer als der mächtigste Nationalsozialist Badens, der NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter Robert Wagner.

Es gab auch konkrete Planungen für ein „Deutsch-Mittelafrika“, die durch den Sieg über Frankreich und Belgien im Zweiten Weltkrieg noch einmal beflügelt wurden. Unzweifelhaft ist jedoch, dass die überseeische Expansion für das Regime einen weit geringeren Stellenwert als jene im Osten hatte; erstere wurde von manchen NS-Akteuren abgelehnt und aufgrund des weiteren Verlaufs des Weltkrieges nicht mehr umgesetzt. Doch diese Betrachtung vom Ende her sollte nicht den Blick auf darauf verstellen, dass kolonialistische Ideen und Ziele in Freiburg und Deutschland bis dahin stark verbreitet waren.

Nicht zu vergessen sind auch die NS-Rassenvorstellungen. Sie bauten nicht nur auf dem Antisemitismus auf, sondern auch auf dem, was zuvor an sozialdarwinistischen, kolonialen und rassenhygienischen Theorien formuliert worden war. Um nur eines von mehreren Freiburger Beispielen zu nennen: Prof. Dr. Eugen Fischer, Freiburger Privatdozent und Kurator der anthropologischen Alexander-Ecker-Sammlung, schrieb 1909: „Nicht eindringlich genug kann gepredigt werden, daß jeder Tropfen Blut von farbigen Rassen, der in unserem Volkskörper Aufnahme findet, uns schädigt, unheilbar schädigt.“ Ab 1918 war Fischer Ordinarius und Direktor des Anatomischen Instituts der Universität. 1927 wechselte er an die Berliner Universität, die Nazis machten ihn dort 1933 zum Rektor. Später half er ihnen bei der Zwangssterilisierung von Deutschen, die afrikanische Väter hatten.

Aufarbeitung und Gedenkort in Freiburg

Die Erforschung und öffentliche Thematisierung der Freiburger Kolonialgeschichte hat in den letzten zwanzig Jahren einige Fortschritte gemacht. Ein wichtiger Zwischenschritt war der Gemeinderatsantrag, den die Fraktionsgemeinschaft Junges Freiburg/Die Grünen mit meiner fachlichen Beratung im November 2012 gestellt hat. Er hatte den Titel „Umgang der Stadt Freiburg mit der deutschen Kolonialgeschichte“ und wurde von allen damaligen Fraktionen mitgetragen. Darin wurde die Stadtverwaltung u.a. gefragt, wo ein „geeigneter Erinnerungsort für die Verstrickung Freiburgs in den deutschen Kolonialismus geschaffen werden könnte“. Zunächst reagierte die Verwaltung eher abwehrend und behauptete, dass sich für Freiburg keine besondere Verstrickung in den Kolonialismus feststellen lasse. Doch die Debatten, die 2013 über den Antrag im Kultur- und im Migrationsausschuss geführt wurden, hatten langfristig Konsequenzen. So gab die Stadt 2016 eine Studie in Auftrag, die schließlich 2019 unter dem Titel „Freiburg und der Kolonialismus. Vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus“ in Buchform präsentiert wurde. Die städtischen Museen zeigten von Juni 2022 bis Juni 2023 im Augustinermuseum die Sonderausstellung „Freiburg und Kolonialismus. Gestern? Heute!“. Und am Museum Natur und Mensch wurden Projekte zur Erforschung der kolonialen Sammlungskontexte vieler „Objekte“ in Gang gesetzt.

Doch nun stellt sich die Frage, wie Auseinandersetzung und Gedenken fortgeführt und welche Konsequenzen gezogen werden können. Neben der seit 2005 bestehenden Website www.freiburg-postkolonial.de und mehreren Publikationen könnte dazu auch ein Denkmal im öffentlichen Raum beitragen. Dafür bieten sich mehrere Orte an. Im Stadtgarten wurde früher in der städtischen Kunst- und Festhalle – insbesondere 1935 – Kolonialpropaganda betrieben. Am früherem Standort der Halle befindet sich heute die „Illumina“, eine Sonnenuhr in Form einer Marmor-Stele. Es handelt sich wohl um die bislang einzige Skulptur einer Freiburgerin afrikanischer Herkunft im öffentlichen Raum. Ausgerechnet diese Skulptur wurde Anfang 2014 von Unbekannten unter Anwendung massiver Krafteinwirkung enthauptet und der Kopf entwendet. Ob es sich um einen rassistischen Anschlag oder reinen Vandalismus handelte, wurde nie geklärt. Auf jeden Fall steht die Figur bis heute unverändert geköpft am Ort. Dieser bietet sich deshalb für eine erweiterte Installation an, die die koloniale Gewaltgeschichte beinhaltet.

Eine weitere Möglichkeit wäre eine Kontextualisierung des (ursprünglich von der Stadt mitfinanzierten) Alexander-Ecker-Denkmals in der Albertstraße. Sie könnte bzw. müsste gemeinsam mit der Universität erfolgen. Hier könnte insbesondere auf die Sonderstellung Freiburgs im Bereich der „Rassenkunde“ und die problematischen Anteile der anthropologischen Sammlung – auch über Ecker hinaus – hingewiesen werden.

Die Stifterehrentafel im Eingangsbereich des Museums Natur und Mensch weist viele koloniale Bezüge auf. Ihr wurde nach der genannten Gemeinderatsdebatte zwar eine digitale Medienstation mit näheren Informationen beigefügt. Die Tafel könnte aber noch viel größer und deutlicher durch eine erinnerungspolitische Installation ergänzt werden.

Im NS-Dokuzentrum, das im März 2025 eröffnet werden soll, wird auf die Rolle der Stadt Freiburg für die Reichskolonialtagung 1935 hingewiesen. Deren Tagungsbüro befand sich im damaligen Verkehrsamt, also im selben Gebäude wie das Dokuzentrum. Als Objekt soll das erhaltene Dienststellenschild des Freiburger Kreisverbandes des Reichskolonialbundes ausgestellt werden. Darüber hinaus ist beabsichtigt, ein Seminar-Angebot zur Verflechtungsgeschichte von NS- und Kolonialgeschichte anzubieten, das ausgeweitet werden kann. Hier könnte also gezeigt werden, wie die Weiterentwicklung von Gedenkkulturen im Dialog funktionieren kann.